Perfektionismus kann Leben kosten
“Wie cool, du mit dieser Situation umgegangen bist. Da kann ich mir echt eine Scheibe davon abschneiden.”
Diese Woche startete mein 4-wöchiger Online Kurs SHINE YOUR LIGHT, in dem die Teilnehmerinnen lernen, wie sie in die Sichtbarkeit gehen können und Human Design helfen kann, sogar Spaß und Leichtigkeit dabei zu empfinden.
88 Menschen hatten sich bis zur letzten Minute angemeldet, was für mich eine sehr positive Überraschung war. Und gleichzeitig stieg der Druck, die Erwartungen zu erfüllen. Die Kurs-Module unterrichte ich live und so erhielten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vergangenen Montag eine ziemlich ungeplante Lektion in Sachen Improvisation:
Eine ungeplante Lektion in Sachen Improvisation
Montagmorgen, 9 Uhr. Der Meeting-Raum in Zoom füllt sich. Mein Herzschlag ist deutlich spürbar. Ich bin gut vorbereitet, habe die Präsentation kurzfristig nochmal angepasst, Notizen ergänzt. Es kann losgehen.
Die Teilnehmenden hatte ich darum gebeten, pünktlich zu sein, da ich nach Beginn den Warteraum nicht mehr im Blick haben würde und niemanden mehr Teilnehmerinnen reinlassen könne. Es tröpfeln noch ein paar Menschen rein. Ich versuche den Host abzugeben, also dass eine Teilnehmerin die Teilnehmenden reinlässt, aber da merke ich, dass ich die Präsentation nicht mehr klicken kann - dazu hätte ich wohl vorher in den Einstellungen etwas ändern müssen.
Ich teile meinen Bildschirm, sodass meine Präsentation zu sehen ist. Es gibt dabei zwei verschiedenen Ansichten: eine fürs Publikum, eine für die Vortragende. Erstmal den falschen geteilt. Dann den richtigen, aber ich sehe meine Ansicht mit den wertvollen Notizen nicht mehr. Mist.
Ich fange mit dem Vortrag an. Es folgt eine Umfrage. Ich verlasse die Präsentation, zeige die Umfrage. Dann wieder zurück in die Präsentation. Puh, das hat einigermaßen geplant.
Ein zusätzliches Tool will ich nicht mehr nutzen, wer weiß, ob das dann klappt. Weiter geht’s.
“Wir sehen deine Präsentation nicht.”
Oh Mann, das hätte ich echt nochmal üben müssen…
Nach ca. 50 Minuten ist das erste Kurs-Modul beendet und ich erleichtert und gleichzeitig fix und fertig.
Eine halbe Stunde später erreicht mich die erste Feedback E-Mail. Viel Verständnis, Lob für meinen Pragmatismus und ein richtig wertvoller Verbesserungsvorschlag. Im Laufe des Tages erhalte ich noch mehr Feedback über die verschiedensten Kanäle.
Die Botschaft darin unisono: alle feiern, wie ich mit diesem technischen Super-GAU umgegangen bin.
Der wirklich nur MEIN Super-GAU war!
Für wen möchtest du perfekt sein?
Folgende Erkenntnis habe ich durch diese Situation gewonnen: es gibt immer zwei Seiten. Mich hat es unter Stress versetzt, dass diese Einheit nicht so geklappt hat, wie ich es mir ausgemalt hatte. Gerade im ersten Modul wollte ich doch alles ganz besonders gut machen: mein Wissen vermitteln, meine persönlichen Erfahrungen teilen usw.
Und genau das wussten meine Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu schätzen. Sie haben gemerkt, dass ich mich vorbereitet hatte, dass ich über Wissen verfüge, das sie weiterbringen kann. Ich konnte meine Inhalte trotzdem rüberbringen, sie mussten auf nichts verzichten – außer auf meine sorgfältig gebauten Charts und meine Sprecheransicht…
Meine sorgfältige Vorbereitung, die schöne Präsentation, die vielen Gedanken, die ich mir im Vorfeld gemacht hatte dienten einzig und allein meinem Perfektionismus, die unausgesprochenen Erwartungen meiner Teilnehmenden zu erfüllen, der Angst, inkompetent rüberzukommen, es doch nicht draufzuhaben…
In welchen Bereichen deines Lebens versuchst du perfekt zu sein?
Worte haben Macht
Während der Live Session habe ich leise zu mir gesprochen: Ruhig bleiben, jetzt hier klicken ist es jetzt zu sehen? So was passiert, es ist alles gut.
Wie habe ich mich früher selbst fertig gemacht, mich beschimpft, für unfähig erklärt: Wie kann man nur so blöd sein? Immer machst du den gleichen Fehler. Du müsstest es doch langsam mal kapiert haben, dass du das nicht hinkriegst. Kapier’ doch endlich, dass dein Platz nicht in der vorderen Reihe ist.
Diese Selbstkritik macht uns klein und hält uns klein. Und wir sind meistens unsere größten Kritiker.
Wie sprichst du mit dir, wenn dir etwas nicht gelingt? Zeigst du Verständnis oder verurteilst du dich?
Wovor hast du Angst?
Ich glaube, dass gerade wir Frauen ein riesiges Thema mit Perfektionismus haben. Bereits von klein auf versuchen wir zu gefallen, lieb zu sein, es allen recht zu machen. Von Anfang an wollen wir die hohen Erwartungen der Eltern, Lehrer, später den Vorgesetzten oder Kunden entsprechen.
Wir wachsen in einem Schulsystem auf, in dem nach Fehlern gesucht wird. Starten ins Berufsleben, machen unsere ersten unsicheren Schritt und suchen ständig nach Optimierungspotenzial. Vergleichen und werden verglichen in dieser Leistungsgesellschaft. Für gute Ergebnisse erhalten wir Bestätigung – oder auch nicht.
Ich kenne diese Mechanik so gut. Und bin daran fast zerbrochen.
Perfectionism is fear in fancy shoes
- Elizabeth Gilbert
Perfektionismus ist mehr als sich nur Mühe geben, sich anstrengen, etwas richtig gut machen wollen. Perfektionsmus ist drüber. Darunter liegt häufig die Angst vor Ablehnung. Ich habe es gegoogelt: Ablehnung aktiviert die gleichen Hirnareale wie physischer Schmerz. Wir alle haben Ablehnung schon zigmal erlebt und möchten es größtenteils vermeiden.
Ablehnung ist eine der größten Menschheitsängste. Sie bedeutet, von der Gruppe verstoßen zu werden, nicht mehr dazuzugehören, von nun an alleine klarkommen zu müssen. Als wir noch in Höhlen gelebt haben, war es das Todesurteil, wir waren den Gefahren da draußen schutzlos ausgesetzt.
Mit dem Bewusstsein kam die Veränderung
Dank Human Design und dem Wissen um die undefinierten Zentren kam Bewusstsein bezüglich dieser Themen in mein Leben. Und damit erste Schritte in Richtung Veränderung.
Ich weiß jetzt, dass ich dazu geneigt habe, meinen Wert in Frage zu stellen. Immer das Gefühl hatte, Leistung erbringen zu müssen, um gewertschätzt oder geliebt zu werden. Ich nehme Gefühle von anderen Menschen extrem wahr und konnte deren Enttäuschung oder Wut kaum aushalten. Das ist heute nicht ganz weg, aber ich weiß, wie ich “ticke” und kann eine beobachtende Position einnehmen. Habe mir Strategien zugelegt, wie ich mit solchen Situationen bevorzugt umgehen möchte.
Geholfen hat mir auch das Buch “50 Sätze, die das Leben leichter machen” von Karin Kuschik.
Natürlich habe ich weiterhin einen sehr hohen Anspruch an meine Arbeit, das wird von mir als 1er Linie auch erwartet, dass ich weiß, wovon ich spreche. Aber mindestens genauso wichtig ist meine Erfahrung und meine Persönlichkeit, die definitiv nicht perfekt, dafür aber immer echt ist und immer authentischer wird.
Ich kann es aushalten, wenn mal etwas schief geht und verurteile mich selbst nicht mehr dafür. Von anderen werde ich dafür erst recht nicht kritisiert, das habe ich am Montag mal wieder persönlich erlebt. Solche Erfahrungen stärken dich und geben Mut, es einfach zu machen.
Perfektionismus kostet Leben. Dein Leben, wenn du Perfektionismus das Ruder überlässt. So viele ungenutzte Möglichkeiten, so viele verpasste Chancen, so wenig Leben.